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Die Zukunft im Blick: Berufslernende im Kanton Bern entwickeln innovative Geschäftsideen
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Auszubildende an der gibb Berufsfachschule Bern erlangen im Lernprogramm «myidea» Kompetenzen im unternehmerischen Denken und Handeln.
Unternehmerisches Denken und Handeln ist eine wichtige Zukunfts- und Gestaltungskompetenz. Hochschulen, darunter auch die Berner Fachhochschule, bieten ihren Studierenden deshalb zahlreiche Möglichkeiten, ihre Entrepreneurship-Kompetenzen zu entwickeln. Ein Thema, das an Berufsfachschulen bisher noch wenig präsent war. Das ändert sich gerade. Entrepreneurship gewinnt auch an Berufsfachschulen an Bedeutung und findet Eingang in die berufliche Grundbildung. Das Schweizerische Zentrum für Unternehmerisches Denken und Handeln (szUDH) hat mit «myidea» ein Lernprogramm entwickelt, das speziell auf Berufslernende zugeschnitten ist. Auch die gibb Berufsfachschule Bern bietet ihren Lernenden diese wertvolle Lernerfahrung.
Seegras gibt es an Schweizerischen Seen sehr viel. Mitunter so viel, dass es für Boote und Badende zu einer Herausforderung wird. Wie wäre es, wenn sich daraus etwas Nützliches machen liesse? Das dachten sich auch Anina Trachsel und Sarah Steiner, zwei Augenoptikerinnen im 2. Lehrjahr an der gibb Bern. In eigener Herstellung entwickelten sie einen ersten Prototypen eines Brillengestells aus Seegras: «Wir haben das Seegras gereinigt, getrocknet, zerkleinert und dann ein Kunststoffharz als Zusatzstoff dazu gegeben. Das Material wurde fest und daraus konnten wir unser erstes nachhaltiges Brillengestell herstellen», so Anina Trachsel. «Auf die Idee sind wir durch einen spontanen Einfall während eines Arbeitsauftrags im Berufskundeunterricht gekommen», ergänzt Sarah Steiner.
An der Idee arbeiteten die Lernenden im Rahmen des Lernprogramms «myidea», das Nico Zickgraf, Lehrperson für Allgemeinbildung an der gibb Bern, vor den Sommerferien mit den Lernenden durchführte. «Es war spannend zu sehen, wie die Lernenden mit Elan und mit viel Eigenständigkeit an ihre Startup-Ideen herangegangen sind. Dabei tauchten Fragen und Probleme auf, an die zuvor nicht gedacht wurde, zum Beispiel: Wem gehört eigentlich das Seegras?», so Nico Zickgraf.
Das Entrepreneurship Lernprogramm «myidea» wurde für die berufliche Grundbildung konzipiert
Die Idee hinter dem Lernprogramm «myidea»: Lernende entwickeln über einen Zeitraum von mehreren Wochen eine eigene Geschäftsidee, meistens in Teams von zwei Personen. Dabei durchlaufen sie sämtliche Schritte von der Problemanalyse, über die Ideenentwicklung bis zum Entwickeln eines Mockups oder Prototypen. Sie machen sich Gedanken zu Marketing und berechnen, wie viel sie mit einem verkauften Produkt voraussichtlich verdienen können und welche Annahmen sie noch überprüfen müssen. Am Ende stellen sie ihre Geschäftsideen innerhalb der Klasse oder im Rahmen einer Abschlussveranstaltung vor. Die Lernenden können damit gleich mehrere Dinge erleben. Zum Beispiel: Was es heisst, eine Opportunität zu erkennen und gemeinsam kreative Lösungen zu entwickeln. Wie man Feedback zu einer Idee einholt. Dass es in Ordnung ist, Ideen zu teilen, auch wenn diese noch nicht ganz ausgereift sind und dass dies sogar gut ist, weil sich dann Rückmeldungen von Expertinnen oder potenziellen Kunden bei den nächsten Schritten berücksichtigen lassen. Damit lernen Auszubildende etwas Wesentliches: trotz Unsicherheiten den nächsten naheliegenden Schritt zu tun und ohne viel Geld dafür auszugeben. Zudem wird das Scheitern, was eben auch ein möglicher Ausgang eines unternehmerischen Projekts sein kann, im Lernprogramm mit Hilfe von Fallstudien thematisiert.
Entrepreneurship-Kompetenzen sind Gestaltungskompetenzen
Diese unternehmerischen Kompetenzen sind wichtig, wenn man ein eigenes Unternehmen gründet oder als Nachfolgerin oder Nachfolger ein Unternehmen übernimmt. Aber sie sind auch dann wichtig, wenn man innerhalb eines Unternehmens unternehmerisch aktiv ist und beispielsweise neue Produkte oder Dienstleistungen entwickelt – oder wenn man eine Initiative in seiner Gemeinde ins Leben rufen möchte. Letztlich braucht es diese Kompetenzen, wenn man Wirtschaft und Gesellschaft mitgestalten möchte. Diese werden zukünftig noch wichtiger: Wenn Automatisierung und KI weitere Routinetätigkeiten übernehmen, werden Kompetenzen wie Kreativität, Innovationskraft und die Fähigkeit zur kritischen Reflexion vermutlich immer entscheidender.
Die gibb Bern fördert unternehmerisches Denken und Handeln bereits seit mehr als 10 Jahren
Schon vor mehr als zehn Jahren begann die gibb Bern, unternehmerisches Denken und Handeln zu fördern. Dafür initiierte Kathy Gerber, Lehrperson für Allgemeinbildung, das Begabtenförderungsprogramm «Entrepreneur», das sich an ausgewählte Lernende richtete. Nun soll das Lernprogramm «myidea» an der gibb Bern als Bestandteil der beruflichen Grundbildung von vielen Lehrpersonen im Unterricht integriert werden. Tvrtko Brzović, Leiter der Abteilung für Dienstleistung, Mobilität und Gastronomie, erläutert die Gründe:
«Vor über einem Jahrzehnt erkannte man, wie wichtig unternehmerisches Denken und Handeln ist. Lernende, die besonders gute Leistungen erbracht haben, konnten im Rahmen des Entrepreneurship-Programms zusätzlich gefördert werden. Heute sollen mehr Lernende aus verschiedenen Berufen die Möglichkeit erhalten, ihre Kompetenzen im unternehmerischen Denken und Handeln weiterzuentwickeln. Daher hat die Schulleitung der gibb Bern entschieden, unternehmerisches Denken und Handeln im Lehrplan des allgemeinbildenden Unterrichts zu integrieren. Wir sind überzeugt, dass dieses Programm nicht nur den Lernenden, sondern auch den Ausbildungsbetrieben zugutekommt. Betriebe profitieren davon, wenn ihre Lernenden die Kompetenzen mitbringen, die notwendig sind, um neue Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse zu entwickeln.»
Vom Pilotprojekt zum Schweizerischen Zentrum für Unternehmerisches Denken und Handeln
Mittlerweile haben bereits über 300 Lehrpersonen aus der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweiz eine Weiterbildung besucht, um das Lernprogramm «myidea» kennenzulernen und es anschliessend mit ihren eigenen Lernenden durchzuführen. Dadurch werden jährlich geschätzt 5’000 Lernende erreicht.
Entwickelt wurde das Lernprogramm «myidea» zunächst als kompaktes Entrepreneurship-Education-Programm, um mit einer Vorher-Nachher-Messung die Wirkung des Programms besser zu verstehen. Nach erfolgreicher Evaluation an mehreren Berufsfachschulen konnte ein Konsortium aus Akteuren der Berufsfachschulwelt, Hochschulen und Wirtschaft zwischen 2018 und 2022 ein nationales Pilotprogramm durchführen, das vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI finanziert wurde. Im Rahmen des Pilotprogramms wurden die ersten 200 Lehrpersonen geschult. Zum einen in vier Pilotkantonen und zum anderen an der Pädagogischen Hochschule Zürich, wo sich Prof. Dr. Manfred Pfiffner, Professor für Berufspädagogik, und Gründungsmitglied der Initiative, die Integration von «myidea» in die Lehrpersonenausbildung vorangetrieben hat. Der Kanton Bern war bereits in dieser Pilotphase mit dabei, damals mit dem Bildungszentrum Emme als Pilotschule.
Im Mai 2022 wurde das Schweizerische Zentrum für unternehmerisches Denken und Handeln (szUDH) gegründet, um das Pilotprojekt zu verstetigen
Nach dem erfolgreichen Pilotprojekt wurde dann im Mai 2022 das Schweizerische Zentrum für unternehmerisches Denken und Handeln (szUDH) in Olten gegründet, um das Lernprogramm «myidea» ständig weiterzuentwickeln und um kontinuierlich Lehrpersonen auszubilden. Die Arbeit wird dem Zentrum so schnell nicht ausgehen: «Unsere Vision ist, dass alle Berufslernenden die Chance erhalten, sich unternehmerische Kompetenzen anzueignen. Das sind 70'000 junge Menschen, die jährlich ihre Berufslehre abschliessen. Wir haben also noch jede Menge zu tun.» so Georg Berger, Präsident des szUDH. Aber er ist zuversichtlich: «Es zeichnet sich ab, dass unternehmerisches Denken und Handeln im Rahmen der Berufsentwicklung zunehmend an Bedeutung gewinnt. So sind unternehmerische Kompetenzen beispielsweise in der neuen Berufsbildungsverordnung für die Berufe der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, den sogenannten MEM-Berufen, explizit verankert.»
Ähnlich wie die Berufslernenden ihre Ideen kontinuierlich weiterentwickeln, wird auch das Lernprogramm «myidea» durch das szUDH fortlaufend optimiert: Das bestehende Lernprogramm wird etwa im Rahmen des Projekts «myidea professional» so ergänzt, dass es nun auch im Berufskundeunterricht Anwendung findet. In der Anfangsphase wurde das Lernprogramm schwerpunktmässig im allgemeinbildenden Unterricht eingesetzt. Inzwischen wurden erfolgreiche Pilotprojekte durchgeführt, bei denen «myidea» übergreifend im allgemeinbildenden und im Berufskundeunterricht eingesetzt wurde. Dabei entwickelten die Lernenden Ideen, die eng mit ihrem jeweiligen Berufsfeld verbunden sind. Das Projekt «myidea professional», im Zuge dessen zudem 200 weitere Berufsfachschullehrpersonen geschult werden, wird von der Gebert Rüf Stiftung unterstützt.
Seit 2024: Berufsfachschulen können nach erfolgter Zertifizierung ihr Engagement für unternehmerisches Denken und Handeln intern und extern kommunizieren
Eine weitere Neuerung: Das szUDH-Team hat einen dreistufigen Zertifizierungsprozess zur «UDH-Berufsfachschule» entwickelt. Im Rahmen eines Pilotprozesses wurden nun die ersten fünf Berufsfachschulen mit der ersten Stufe der Zertifizierung ausgezeichnet. Die Integration von Entrepreneurship in den Bildungsalltag von Berufsfachschulen hält auch Peter Kaeser, Präsident des Dachverbands der Berufsfachschulen – Table Ronde BS und Direktor der WKS KV Bildung für sinnvoll: «Unternehmerisches Denken und Handeln sind eng mit dem Konzept des lebenslangen Lernens verknüpft. Neugier, Selbstreflexion, kritisches Denken, Selbstwirksamkeit, Resilienz und die Fähigkeit, Lösungen für komplexe Herausforderungen zu entwickeln und umzusetzen, sind dabei zentrale Elemente. Wenn es uns als Bildungsinstitutionen gelingt, unsere Lernenden auch auf diesem Weg zu begleiten und zu stärken, haben wir viel erreicht!»
Werden Anina Trachsel und Sarah Steiner ihre Idee tatsächlich umsetzen können? Werden sie Brillengestelle aus Seegras herstellen? Das wird sich zeigen. Viel wichtiger aber ist: Sie konnten erfahren, was es heisst, etwas Eigenes zu unternehmen. Sie haben ihre Kreativität eingesetzt, Eigeninitiative gezeigt und sich unternehmerisch ausprobiert. «Wir haben das Projekt als sehr spannend empfunden. Es war eine gute Erfahrung, zu erleben, wie es ist, eine eigene Geschäftsidee zu entwickeln. Die Entwicklung eines Prototyps hat uns am meisten Spass gemacht», so Anina Trachsel und Sarah Steiner einstimmig.
Die Autorin Prof. Dr. Susan Müller ist seit 2020 Professorin für Entrepreneurship am Institut für Innovation & Strategic Entrepreneurship (IISE) der Berner Fachhochschule, Departement Wirtschaft. Zuvor war sie am Institut für Klein- und Mittelunternehmen der Universität St. Gallen tätig (2007–2012 und 2014–2020), zuletzt als Assistenzprofessorin. Vor ihrer akademischen Laufbahn arbeitete sie als Unternehmensberaterin.
Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Themen Entrepreneurship Education, Aktivitäten von Gründerinnen und Gründern und Social Entrepreneurship.
Im Jahr 2018 initiierte sie gemeinsam mit Vertretern von Berufsfachschulen, Hochschulen und der Wirtschaft das Projekt «Unternehmerisches Denken und Handeln an Berufsfachschulen der Schweiz». Daraus entstand im Mai 2022 das Schweizerische Zentrum für unternehmerisches Denken und Handeln (szUDH). Sie hat die Inhalte des Entrepreneurship Education-Programms «myidea» massgeblich mitentwickelt.
Susan Müller studierte an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Karlsruhe, der Fachhochschule Pforzheim und der University of Pittsburgh. Sie promovierte an der Universität St. Gallen zum Thema «Entrepreneurship Education».